Stolze Chinesen im Schlafanzug
Im Café Extra lässt Sven Kemmler die Besucher an seinen Erfahrungen mit dem Reich der Mitte teilhaben
Sven Kemmler erzählt im Café Extra von
seiner Sicht auf China als ein Land, in dem moderne Technik und fünftausendjährige Kultur sich keineswegs beißen. Wenn hierzulande ein Mensch im Schlafanzug auf die Straße geht, heißt es: „Er weiß nicht, was er tut, er ist aus seinem Heim ausgebüxt.“ In China aber zeuge es von Stolz, im Schlafanzug auf der Straße zu stehen. Es signalisiere: „Ich habe nichts zu tun, mir geht es gut.“ Sven Kemmler benannte das chinesische Bekenntnis zum bewussten Nichtstun als seinen „Lieblingsbrauch“, als er im Café Extra unter dem Titel „Die neue Mitte: China für Anfänger“ einen sehr persönlichen Reisebericht vom Besuch in Shanghai ablieferte.
Bekannt ist der Münchener ja vor allem als Kabarettist. Indes: Kabarettistische Pointen waren diesmal selten und galten meist dem deutschen Blick auf die von Mao begründete Volksrepublik. „Es gibt dort immerhin keine unter dem Diktat der Wirtschaft stehende Demokratie, sodass Entscheidungen schnell gefällt und Dinge rasch umgesetzt werden“, so Kemmler. Und Mao? „Die Chinesen sehen ihm die groben Fehler nach. Er habe es stets gut gemeint, heißt es, und sie versehren ihn heute noch.“
Es schien, als habe Sven Kemmler in der Wolkenkratzerstadt Shanghai seine eigene, neue Mitte gefunden, wie er da im Kittelhemd mit Mao-Kragen Moderne und Tradition der 15 Millionen-Stadt skizziere.
Arbeitsam und auf hohem Stand der Technik seien die Chinesen, ein freundliches Volk, dem die Weisheit des Alters, Ruhezeiten und leibliches Wohl viel gelten. „Der Chinese fragt zur Begrüßung nicht: Wie geht es Ihnen? Sondern: Haben Sie schon gegessen?“, würdigte Kemmler die Esskultur, bei der üppige Speisen gemeinsam mit der Familie und Freunden sinnenfreudig genossen würden: „Essen ist eine Sensation, ist das Fenster zur chinesischen Seele.“ Alle Geschmacksrichtungen – süß, sauer, salzig und bitter – sowie auserlesene Würze, optisch herrliche Komposition und diätische Ausgewogenheit würden berücksichtigt. „Man denke sich die Verblüffung eines Chinesen vor einem Teller pappiger Spätzle mit Braten. Essen, um satt zu werden – das reicht ihm nicht.“
Verbal sich zu verständigen sei freilich im Alltag schwierig: Zu komplex sei für den Europäer die Schrift der Zeichen sowie deren differenzierte Betonung. Doch hindere dies die große Gastfreundschaft nicht. Im Gegensatz zum Europäer lebten Chinesen „in einer ganz anderen Kategorie von Hingabe und Geduld“ , fuhr Kemmler fort, indem er etwa chinesisches Kung-Fu als ein meisterliches Können mit dem Ziel, durch exakte Bewegungsabläufe mittelfristig Erleuchtung zu erlangen, beschrieb. Kurz: Als eine hohe Meditationskunst. „Es geht dem Chinesen um das Nicht-Tun, das sich sehr von unserer Art des Nichtstuns mit Fernbedienung auf dem Sofa unterscheidet.“
Fazit: Inmitten der Wolkenkratzer und Discounter, groß wie Palazzi, seien Chinesen fest in ihrer großen Kultur verwurzelt. Daraus bezögen sie hohes Selbstbewusstsein, feierten Dichtkunst, Theater und Literatur, gekrönt von Sinnenfreude und Humor, als erlesene Essenzen der Lebensbalance. Kemmler rezitierte bilderreiche Verse und sagte: Würde mich jemand fragen, warum ich dieses Programm mache, so würde ich antworten: Der Vogel singt nicht, weil er eine Antwort weiß, sondern er singt, weil er ein Lied hat.“
Quelle: Groß-Gerauer Echo vom 18.11.19 – Text: Charlotte Martin
